Laudatio 3. html Wolfgang Schreiber

Laudatio: Neue Töne für neue Räume

Sehr verehrte Damen und Herren!

Auf den ersten Blick mag es überraschen, daß der Preisträger des heutigen Abends, Spezialist elektrischer Maschinen, Schaltungen und Klangtransformationen, nach seinem Abitur – das war kurz nach dem Krieg, 1947 – ein Studium der Kirchenmusik begonnen hatte. Musik in der Nähe des christlichen Glaubens, in der Funktion, liturgische Handlungen zu begleiten oder zu überhöhen, als Vorbereitung für die profanen Experimente im Elektronischen Studio? Das will auf unseren ersten Blick nicht zusammenpassen. Gleichzeitig jedoch begab sich Hans Peter Haller in seiner Heidelberger Lehrzeit mutig in die Nähe der neuesten zeitgenössischen Musik – er besuchte nämlich die Kompositionskurse von Wolfgang Fortner und René Leibowitz. – Und zwei weitere Begegnungen dürften für sein musikalisches Hören und Denken ausschlaggebend geworden sein. Um sich das Studium besser zu finanzieren, arbeitete er nebenbei nicht nur am Heidelberger Stadttheater, wo er die Bühnenmusik leitete, sondern er lernte auch schon eine Rundfunkanstalt, den Südfunk Stuttgart, von innen kennen. Man könnte tatsächlich sagen: die Weichen für Hallers Weg waren frühzeitig gestellt, und der Weg steht wohl unter demselben Motto wie diese kleine Laudatio auf den Preisträger: Neue Töne für neue Räume!

Tatsächlich: Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich gerade ein Studium der Kirchenmusik als förderlich für ein musikalisches Raumbewußtsein, das nicht fixiert ist auf die starre akustische Spieler-Hörer-Situation zwischen – sagen wir – 1700 und 1950. Zur Tradition der Kirchenmusik beispielsweise gehört, und Haller beruft sich ausdrücklich auf sie, die berühmte Mehrchörigkeit von San Marco in Venedig, wo die geteilten Chöre auf den Emporen mit ihren fast verwirrenden Echos einen vielschichtigen, wie in Bewegung befindlichen musikalischen Raum konstituierten. Als John Eliot Gardiner dort vor wenigen Tagen Monteverdis „Marienvesper“ aufführen durfte, da wurde die räumliche Konzeption, d.h. die Zukunftsträchtigkeit einer optisch-akustischen Raummusik greifbar, die erst in unseren Jahren heute wieder neu erprobt wird. Ist es ein Zufall, daß der Komponist, mit dem Hans Peter Haller am weitesten in seiner musikalischen Raumdramaturgie gelangt ist, kurz: daß Luigi Nono in Venedig geboren wurde?
Der Kirchenraum also schärft das Ohr für die Raumtiefe, für die Komplexität der Klangereignisse, für deren lebendig changierende Reflex-Bewegung. Die Erfahrung mit dem Musiktheater bedeutet vor allem Aufmerksamkeit für rasche Dynamik der Klangträger, der musikalisch Handelnden. Ganz anders die Idee der elektro-akustischen Musik: Hallers frühe Begegnung mit dem Rundfunk, mit Tonmaschinen und Lautsprechern, mußte seine Neugier darauf wecken, wie musikalischer Raum jenseits der realen Dreidimensionalität nicht nur künstlich herzustellen, sondern in der Fiktion womöglich noch zu steigern wäre. Vor allem: Wie die räumliche Ausforschung der Töne – und es ging ihm von Anfang an ja nicht um technische Spielereien, sondern um musikalische Zusammenhänge – der Musik und den Komponisten zu Hilfe kommen, wie Technik mit Kunst zu einer neuen Einheit finden könne. Diese Neugier hat Hans Peter Haller durch eine besondere Tat befriedigt – indem er 1972 das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks in Freiburg im Breisgau begründete.

Bevor die Arbeit in diesem Experimentalstudio etwas näher beleuchtet wird, lohnt noch ein Blick in die fünfziger und sechziger Jahre, um herauszufinden, was an Praxis und theoretischer Durchdringung vorausgegangen war, damit Haller der kreative Mitarbeiter vieler Komponisten – er selber spricht da von „Geburtshilfe“ – werden konnte: Ich nenne nur die Namen Wolfgang Fortner, Pierre Boulez, John Cage, Cristobal Halffter, Luigi Nono, auch den von Manfred Schoof und seiner Jazz-Group. Noch während seines Heidelberger Studiums besuchte er beispielsweise die damals noch so genannten Kranichsteiner Ferienkurse für neue Musik, begegnete er dort Olivier Messiaen und Pierre Boulez, all jenen, die nach dem Kriege sich anschickten, der zeitgenössischen Musik den noch unentdeckten Kontinent des radikalen seriellen Konstruktivismus und der musikalischen Elektronik zu erobern. Und dann zog es ihn ziemlich bald schon in die Praxis, wurde er Musikredakteur am Südwestfunk Baden-Baden, mit den Aufgabengebieten Kammermusik, Chor- und Orgelmusik, Aufnahmeleitung des Symphonieorchesters. In die Mitte der fünfziger Jahre fallen erste Versuche mit elektronischen Geräten, darunter selbstgebauten Ringmodulatoren, Haller komponiert Hörspiel- und Fernsehmusiken. Dann zurück noch einmal an die Universität: in Freiburg absolviert er ein musikwissenschaftliches Studium bei Gurlitt, kümmert sich in den Nebenfächern um Archäologie und Kunstgeschichte. Bevor man ihm das Freiburger Experimentalstudio ermöglicht, war Haller dreizehn Jahre lang Südwestfunk-Musikredakteur, mit der Spezialaufgabe „Elektronische Musik“. Auffallend also von Anfang an die Verschmelzung beider Bereiche: Musik und Elektronik, Praxis und Theorie, Komposition und Realisation, künstlerische Tradition und technisches Experiment. Ringmodulatoren und Harmonizer, Vocoder, spezielle Filterbänke, Verstärker, Verzögerungsgeräte, Synthesizer, Musikcomputer – Hans Peter Haller will sie nicht als Maschinen bezeichnen, sondern ausdrücklich als Instrumente, „die die Reihe der Musikinstrumente in einer logischen Entwicklung fortsetzen.“ Das scheint mir der wesentliche Aspekt seiner Arbeit im Experimentalstudio zu sein.

Es ist hier nicht Ort und Gelegenheit, diese Maschinen-Instrumente zu erklären, und es würde auch der Versuch nicht gelingen, Luigi Nonos großes klang-mythologisches Werk „Prometeo“ in seinen technologischen Voraussetzungen in Kürze beschreiben, oder gar in Worten schildern zu wollen, welche Erlebnissphären dort die breit ausgezogenen Klangflächen und Klangräume beim Zuhörer berühren. Nicht von ungefähr nennt Nono sein Stück „Tragedia dell‘ascolto“ – Tragödie des Hörens, Horchens. Es ist eine Musik an den Rändern der Hörbarkeit, des Verstummens, der Stille – und ihre Zeichen sind Mikroton und Mikrointervall, der bewegliche Klang, Klang- und Sprach-Analyse, leztlich ein Denken aus anderen, tieferen Wurzeln. Nono bezieht sein mikrotonales Denken aus der orientalischen und jüdischen Musikpraxis, aus der griechischen Musik, schließlich aus dem Volksgesang europäischer Tradition. Im Freiburger Experimentalstudio ließ er sich monatelang nieder, um Möglichkeiten zu erkunden, dieses andere Denken und Hören zu realisieren, erlebbar zu machen. Das Zauberwort heißt nicht einfach Elektronische Musik, sondern: Live-Elektronik. Heißt: Elektronische Klangumformung natürlicher akustischer Informationen. Hans Peter Haller beschreibt sie mit allgemeinverständlichen Worten so: „Keine Computermusik, keine synthetische Bandmusik, echte Realtime-Elektronik. Alle elektro-akustischen Ereignisse sind gleichzeitig mit der vokalen oder instrumentalen Interpretation. Diesem Originalklang wird der z. B. elektronisch-umgewandelte Flötenklang über Lautsprecher beigemischt. Keine Manipulation des Interpreten, denn er hört selbst, was zusätzlich aus seinem Flötenton entsteht. Elektronische Klangumformung kann auch als Klangerweiterung des herkömmlichen Instrumentariums bezeichnet werden. Die Geräte zur elektronischen Klangumformung nennen wir Musikinstrumente, angefangen beim Mikrofon. Zusammen mit den übrigen Instrumenten werden sie sichtbar im Konzertsaal aufgebaut – Toningenieur und -techniker werden zu gleichberechtigten Partnern der Musiker.“ Soweit Hans Peter Haller in seiner Einführung anläßlich von Nonos „Prometeo“.
Gehen wir noch weiter ins Einzelne der technisch manipulierten, in der Realzeit verlaufenden Klangumwandlung, der Live-Elektronik, deren Wendigkeit, Schnelligkeit und Effizienz erst durch die Digitaltechnik und den Mikroprozessor möglich wurden, also seit noch nicht allzu langer Zeit. Sehen wir uns die drei entscheidenden Phänomene an, die durch die elektronische Klangumformung gewissermaßen neu definiert werden: Klangraum, Zeitraum, Klangbewegung.

Der natürliche geometrische Klangraum, also etwa ein normaler Konzertsaal wird, so Haller, durch Energieverlust und die Ausbreitungsart der Schallwellen begrenzt. Es ist die elektronische Klangumformung, als Klangerweiterung, die einen neuen künstlichen Klangraum erschafft, und damit auch neue musikalische Formen ermöglicht. So kann beispielsweise in einem kleinen Saal ein großer akustischer Raum hineinprojiziert werden, und Nachhallzeiten werden dann nicht mehr nur in Millisekunden und Sekunden, sondern in Minuten gemessen. Es ist eigentlich überhaupt nicht mehr von „Nachhall“ die Rede, vielmehr eben von einem Klangraum. Hallers Gedanken gehen zurück auf die kritische Philosophie Immanuel Kants und das dort diskutierte Raum-Zeit-Problem. So sagt Kant, die tatsächliche Wahrnehmung erfolge, indem die Simultaneität, das Nebeneinander der Sinnesdaten, in eine Sukzession, in ein Nacheinander aufgelöst wird: Was bedeutet, daß das Räumliche auf dem Zeitlichen basiert. Richtungshören etwa ist also ein Zeitproblem, Raumklangbewegung kommt, so Haller einer Zeitaussage gleich. In der Praxis heißt das: Der Gehörsinn kann nur sehr ungefähr die Raumrelationen wahrnehmen, der Hörraum ermöglicht nur eine ungenaue Schätzung von Entfernung, Bewegung und Richtungen von Hördaten. Hier kommt dem Hören das Sehen zu Hilfe – Hörraum und Sehraum ergänzen einander. Wichtig ist für Hans Peter Haller die Forderung, daß der Komponist für jede Komposition, ja für jedes Konzert den Raum neu erforschen und bestimmen muß; mit Hilfe intensiver Proben im Studio wie im Saal. Und er findet in diesem Zusammenhang durchaus herbe Worte für den heutigen gängigen Konzertbetrieb, wo Instrumentalisten und Sänger in einem kleineren Proberaum die Aufführung erarbeiten, während sie später im Aufführungsraum nur eine sogenannte Sitzprobe absolvieren und ihnen gar nicht ermöglicht wird, sich wirklich einzuhören, den Raumklang kennenzulernen. Vor allem kritisiert er dabei die üblichen Orchestertourneen durch viele Städte und nicht erprobte und erkannte, also nicht erhörte Säle. „Wann werden die Veranstalter umdenken?“ fragt er.

Es war vor gut zwei Jahren zu beobachten – und zwar anläßlich der Aufführung der Komposition „Camminantes...Ayacucho“ von Luigi Nono in der Münchner Gasteig-Philharmonie - , wie Hans Peter Haller und seine Mitarbeiter zusammen mit dem Venezianischen Komponisten den großen Raum und seine elektro-akustische Beschallung durch eine Vielzahl von Lautsprechern tagelang abhorchten, wie sie – um jene feinsten Klangschwebungen, feste Klangballungen, Klangbewegungen herbeizuführen – i h re n ganz besonderen Klangraum definierten, indem sie die Ausrichtung der Lautsprecher, deren Aufhängung, deren Veränderung in vertikaler und horizontaler Ebene immer wieder korrigierten – ganz zu schweigen von den elektro-technischen Manipulationen an der verwirrenden Vielzahl von Geräten. So entstand schließlich, natürlich auch durch kontinuierliche Überprüfung an einer inneren Klang-Vision, die Haller und den Komponisten an den Mischpulten befeuerte, so entstand jenes weitgespannte, in der Klangtiefe ausgehörte Netzwerk der Klangfigurationen, Klangdichten und -auflösungen, jene Klang-Alchemie der abgestuften Mikroveränderungen, die die Zuhörer eine halbe Stunde lang – und unverlierbar in der Zeit – in die „kosmische Unendlichkeit“ der Weltenräume eines Giordano Bruno entführte. –

Zeitraum – darunter versteht Hans Peter Haller jene Phänomene elektro-akustischer Echos, die mit den natürlichen Echos in traditionellen Räumen nicht vergleichbar sind. Zeitverschiebung und Zeitversetzung spielen in der Musikgeschichte schon oft eine wichtige Rolle, führten zu neuen musikalischen Formen, wie beispielsweise dem Kanon, dem Fugato oder zur Echowirkung in der Instrumentalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Fortschritt der elektronischen Zeitverzögerungsgeräte besteht nun in ihrer Digitalisierung: So wird durch sie nicht nur eine bessere Tonqualität, sondern auch größere Zeitvariabilität möglich, im Unterschied zu früher, wo mit magnetischen Bandaufzeichnungsmaschinen gearbeitet wurde. Und es können jetzt diese digitalen Verzögerungsmaschinen komplex vorprogrammiert werden. Es geht dabei um Zeitverschiebungen zwischen 0,5 Millisekunden und 32 Sekunden, die genau einzustellen sind. Als Beispiel für diesen Raumklangfortschritt wird Hans Peter Haller gleich Luigi Nonos Stück „A Pierre“ für Kontrabaßflöte, Kontrabaßklarinette und Live-Elektronik vorführen, bei dem der Klang der Instrumente 12 und 24 Sekunden verzögert wird, dabei nicht als Originalklang, sondern geflltert und transponiert. Es soll bei dieser Musik keine kanonische Form zu hören sein, vielmehr kann und soll der Hörer nicht recht feststellen, was im Moment des Erklingens original und was zeitversetzt gespielt wird. Das Resultat ist ein in sich geschlossenes Klangerlebnis, die Simultanität von mehreren Stimmen. Luigi Nono hat in diesem zum 60. Geburtstag Pierre Boulez zugeeigneten Werk solche Simultanität der Stimmen, Zeiten und Räume beschworen. Seine Worte dazu, nicht technologisch sondern poetisch-philosophisch inspiriert: „Nicht nur Erinnerung, nicht nur ferne Echos, „nicht nur von Gestern sprechen“ (W. Benjamin). Heute das stetig mögliche Neue. – Auch dem Schweigen zuzuhören wissen – nicht nur in einer einzigen Möglichkeit des Hörens – im Schweigen die anderen ANDERES hören. – Endloses Atemholen – unendliche Gefühle – Gedanken – Tragödien – raunende.“ Soweit Luigi Nono.

Klangraum und Zeitraum als Simultaneität der Räume und Zeiten – möglich gemacht
durch Klangbewegung. Damit sind wir wieder bei der venezianischen Mehrchörigkeit und deren Versuch, die Bewegung des Klanges im Raum in Bezug auf Richtung und Tempo zu bestimmen. Hermann Scherchen und Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen mit seiner Lautsprecheranordnung im Kugelpavillon von Osaka - von ihnen stammen die entscheidenden Ideen zur Verwirklichung einer Klangbewegung. Es gibt, nach Hallers Meinung, zwei Wege dazu: die Zeitverzögerung und die dynamische Steuerung. Im Freiburger Experimentalstudio hat man sich für die zweite Möglichkeit entschieden, das heißt, „den für eine Bewegung bestimmten Kanalverstärker wird zur Dynamiksteuerung eine Hüllkurve zugeteilt“, also die das Schwingungsbild eines Klanges einhüllende Kurve. Veränderlich sind Zeit und Form der Hüllkurve, wobei ein besonderes Steuersystem die einzelnen Hüllkurven koordiniert.“Und: „Die Richtung der Bewegung wird durch die Zuordnung der einzelnen Kanäle zu den einzelnen Lautsprechern definiert.“ Es gibt einfache Kreisbewegungen des Klanges, es gibt Klangwanderungen mit Klangtransformation, es gibt die universelle Klangwanderung im Raum. Und damit sind wir beim sogenannten „Halaphon“, dem ersten Universalraumklangsteuergerät, das Peter Lawo nach einer Idee Hans Peter Hallers entwickelte – die Bezeichnung setzt sich aus beider Namen zusammen. Mit dem „Halaphon“ werden Richtung und Zeit des Klanges mit zum formgebenden Bestandteil der Komposition. Der Raum wird in seiner Gesamtheit „als definierte akustische Funktion in die Musik einbezogen.“ Haller dazu: „Klangbewegung öffnet den geometrischen Raum, die Architektur bestimmt nicht mehr allein den Raumklang. Die Raumgrenzen werden fließend.“ Und noch einmal Hans Peter Hallers Wort und seine kühne Reklamation der Technik für die Kunst: „Klangraum, Zeitraum, Klangbewegung bedeuten heute keine Starrheit des elektronisch-erweiterten Klanges, sondern individuelle Interpretation. Die elektro-akustischen Geräte werden zum gespielten Instrument.“ Wieder war es Luigi Nono, der das „Klangwandern“ mit seiner Musik erfüllte und steigerte. Im vergangenen Herbst brachten die Berliner Festwochen ein für den Geiger Gidon Krämer geschriebenes Werk mit diesem zur Uraufführung; mit dem flimmernden Titel „La lontananza nostalgica-futura“ (also auf deutsch vielleicht: Die sehnsüchtige Ferne der Zukunft. Oder: Die zukünftige Sehnsucht der Ferne) für Solo-Violine, Live-Elektronik und Tonband. Es erklingt da eine Musik aus leisen Fragen, tastende Bewegungen, verinnerlicht oder dramatisch-angstvoll suchenden Klanggesten im musikalischen Raum. Und es gibt eine Besonderheit bei dieser Komposition – das sind die über das Podium verteilten sechs Notenpulte, die sich der Solist sozusagen spielend zu erwandern hat. Die Idee des Wanderns ist hier konkretes Bild geworden, das Symbolkraft besitzt: Die Klänge befinden sich auf der Reise, die Tonquelle selbst ist dynamisch geworden – in einer Art Musiktheater, das der Solist als der eigene Darsteller seiner Klangbeschwörungen von Pult zu Pult langsam fortschreitend realisiert. Vielleicht ist Luigi Nonos künstlerischer Wahlspruch der letzten Jahre auch Hans Peter Hallers, dessen engen Begleiters, Credo geworden: Er heißt: „Wanderer, es gibt keine Wege, doch wir müssen gehen“; er wurde im 13. Jahrhundert in Toledo von einem Mönch in eine Klostermauer eingeritzt.

Verehrte Damen und Herren! Ich meine, daß der Weg Hans Peter Hallers, der ja heute hier nicht allein als Elektronikmeister, sondern als Musiker, Komponist, Freiburger Hochschulprofessor, international geschätzter Helfer und Ko-Autor vieler anderer Komponisten unter uns sitzt, daß sein Weg ein Weg ist, der auch denTechnik-Skeptiker, den eingeschworenen Freund der alten Künste, die ja auf Maschinen, Schaltungen und Klangtransformation verzichten mußten, mit der Skepsis versöhnen kann. Der entscheidende Punkt ist, so glaube ich, die Gegenwärtigkeit und Spontaneität dieser gemeinsam mit den Komponisten im kreativen Moment benutzten Live-Elektronik – denn Musik ist ein ständiges Werden und Vergehen im Augenblick: Neue Töne für neue Räume. Viel mehr Zweifel sind angebracht gegenüber einem technischen Zugriff, der der Musik die Würde, die „Aura“ des Jetzt und Hier, zum Zwecke ihrer Vermarktung, nimmt. So wäre denn Luigi Nonos eben zitiertes Wort, das von dem deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin stammt, fast als moralische Forderung neu zu verstehen: „Nicht vom Gestern sprechen“.Nono fügte hinzu: Heute das stetig mögliche Neue.

München, 2. Juni 1989